"Tarzan" by James Prineas Stories from "A Village on Kythera"


TARZAN

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Mein Mittagsschläfchen war schon beinahe vorbei, als ich vor dem Fenster das behutsame Aufplatschen von Plattfüßen hörte und dazu eine rauhe Stimme, die sich an einem Flüstern versuchte. Die Freunde, die zusammen mit mir auf Kithera Urlaub machten, schliefen in ihren jeweiligen Zimmern, und ich stolperte nach draußen, um den Besucher um Ruhe zu bitten. Es war Tarzan. Auch wenn man heutzutage jeden Zentimeter seiner knapp über einen Meter fünfzig großen Gestalt als stämmig charakterisieren könnte, hatte er seinen Spitznamen bereits vor über fünfzig Jahren als Wickelkind verpaßt bekommen, um ihn boshaft daran zu erinnern, wie wenig er mit seinem athletischen Namensgeber gemeinsam hatte. Georgios "Tarzan" Kastrisios, seit vielen Jahren als Taxifahrer auf der ganzen Insel berühmt-berüchtigt und beliebt, ist eine der eindrucksvolleren Sehenswürdigkeiten, die es auf Kithera zu bestaunen gibt.

Tarzan trat von einem Fuß auf den anderen und ließ verlauten, er störe doch hoffentlich nicht, fügte dann sogleich hinzu, daß er sich mit mir über meine Schwester unterhalten wolle, die mich in diesem Sommer auf der Insel besuchte.
"Meine Schwester?" Mit einem mal war ich hellwach. Vermutlich kommt es Brüdern nur selten in den Sinn, daß ihre Schwestern zum Lustobjekt taugen, natürlich vor allem dann nicht, wenn es sich bei dem Bewunderer um einen einfachen Taxifahrer handelt, dessen größte Glücksmomente im Leben untrennbar mit dem Abknallen winziger Singvögel und dem Schwelgen in den Kochkünsten seiner Ehefrau verknüpft sind.
"Es geht um ihre Stiefel", erläuterte Tarzan. Meine Schwester hatte vor der Fahrt nach Kithera einen Zwischen-stop in England eingelegt und dort ein Paar schwarze Wanderstiefel einer Marke erstanden, die damals als äußerst schick galt. Mir war bereits aufgefallen, daß die Männer im Dorf immer ganz besonders gründlich hinsahen, wenn meine Schwester gutgelaunt vorbeispazierte, und nach Tarzans Worten fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Tarzan und ich setzten uns auf der Veranda in den Schatten.
"Das wären absolut perfekte Jagdstiefel. Stiefel wie die bekommst du in Griechenland einfach nicht", sagte er.
"Sie hat sie in England gekauft", antwortete ich.
Er fragte, wieviel sie gekostet hätten, und ich nannte ihm die Summe in Drachmen. Er rieb sich die Bartstoppeln am Kinn und erspähte just in diesem Augenblick die Stiefel, deretwegen er es auf sich genommen hatte, durch die stechende Hitze zu marschieren, um mich aus dem Schlaf zu reißen. Er stürzte auf die Schuhe los und nahm sie begierig in die Hände, liebkoste sie auf eine Art und Weise, daß seine Frau gewiß eifersüchtig geworden wäre, zeigte mir begeistert die solide Arbeit, die elastische Sohle, die zweifachen Nähte. Ich hatte ähnliche Begeisterung bereits früher erlebt, wenn Leute von steinaltem Whisky schwärmten, von handgearbeiteten Jagdgewehren und wertvollem Geschmeide, noch nie aber, wenn von gummibesohlten Wanderstiefeln die Rede war. Tarzans in tiefe Falten gelegte Stirn glühte vor Begehren.

Nachdem sich die erste ungestüme Ekstase gelegt hatte, fragte er mich, ob ich demnächst nach England fahren würde. Dem war nicht so. Ich sagte zu ihm, daß ich meine Schwester Eleni bitten würde, ihm auf der Heimreise nach Australien Stiefel zu schicken, daß ich allerdings nicht mit Sicherheit sagen könne, ob sie die Zeit dafür hätte.
picture description "Ich sag dir, wie wir es machen können, mein Dimitri."
Er beugte sich zu mir hin und sprach mit allem Nachdruck, gab dabei keine Sekunde lang die seidenglänzenden Stiefel aus den Händen. "Auf dem Rückweg nach Australien fährt sie nach England und kauft die Stiefel für mich, und ich bezahle dafür. Ich schick ihr das Geld - bar auf die Hand!" sagte er und patschte sich mit der Rechten auf den Oberschenkel, als knallte er einen dicken Packen druckfrischer Zehntausenddrachmenscheine auf den Tisch.

"Das mit dem Geld klären wir später", sagte ich. "Ich weiß nur wirklich nicht, ob sie die Zeit dafür hat, Tarzan. Wir müssen sie erst einmal fragen. Und dann bleibt noch das Problem mit der Größe - wir wissen ja nicht genau, welche Größe du brauchst." Im Nu hatte Tarzan den rechten Schuh ausgezogen und war in Elenis Stiefel geschlüpft - ich wiederum war so verdutzt, daß ich mich nicht vom Fleck rühren konnte, einen Augenblick lang blieb mir das Herz stehen. Die ganze Sache war derart glatt und flott abgelaufen, daß ich an eine gut choreographierte Ballettszene denken mußte oder, passender vielleicht, an die in Fleisch und Blut übergegangene, gänzlich beiläufige Mühelosigkeit, mit der ein alter Pokerprofi ein neues Blatt mischt und austeilt.

Die Angst, die mich damals befiel, meine ältere Schwester könne jede Sekunde aus ihrem Zimmer stürmen und mitbekommen, wie Tarzans einzigartig feister Fuß in ihren heißgeliebten Doc Martens steckte, sie war einer jener apokalyptischen Momente im Menschenleben, die unsere Erinnerung gnädigerweise aus dem Bewußtsein löscht. So großzügig und verständnisvoll meine Schwester auch sein kann, in jenem Augenblick sah ich mein Leben ernstlich in Gefahr schweben. Nur dank des Erbarmens der Götter hatte ich Elenis Teenagerzeit überlebt, und obwohl wir uns inzwischen - d.h. seit ich vor mehr als zehn Jahren von zu Hause weggezogen war und seither auf einem anderen Kontinent lebe - sehr nahestehen, fürchtete ich doch ihren Zorn für den Fall, daß sie herauskommen und mitansehen sollte, wie ich herauszufinden half, ob die Füße eines griechischen Bauernsohns wohl in ihre Stiefel paßten.
"Die sind haargenau meine Größe", rief Tarzan freudig aus und streckte den Fuß mit dem Stiefel daran in meine Richtung. Der Schuh saß allerdings etwas locker, was darauf schließen ließ, daß Tarzan sogar noch kleinere Füße hatte als Eleni.
"Und sieh nur, wie leicht und weich und bequem die Dinger sind." Ich äugte ins Wohnzimmerfenster, ob irgendwo eine Bewegung zu sehen war, und machte einen Schritt nach vorn, um sicherzugehen, daß niemand vom Inneren des Hauses aus Tarzan genauer beobachten konnte.

"Bitte zieh den Schuh wieder aus, damit wir die Größe nachschauen können", flehte ich. Tarzan aber war in tiefes Nachdenken versunken. Er beugte sich wieder vor, ohne dabei den großartigen Stiefel auch nur auf dem Erdboden auftippen zu lassen. "Ich sag dir, wie wir es machen können, mein Dimitri. Wenn deine Schwester abreist, läßt sie mir einfach ihre Stiefel da. Die sind sowieso viel zu schwer, als daß sie sie mit auf die Reise nimmt - schau bloß, wie schwer sie sind. Außerdem muß sie das Paket dann nicht erst groß aus England wegschicken! Schau bloß, wie schwer die Dinger sind!" Er konnte den Fuß nur mit Ach und Krach über dem Boden halten, derart vehement zog das Gewicht der schrecklichen Stiefel nach unten. Ich machte mir schon Sorgen, daß Tarzan auf die Idee käme, die Schuhe auf der Stelle mitzunehmen, ja daß er womöglich von mir verlangte, ich solle ihm seine alten Schuhe in eine Tüte packen, damit er sie besser tragen kann. Oder - noch schlimmer - daß er mir vorschlagen würde, er lasse seine alten Schuhe hier, damit meine Schwester sie anzieht, bis sie nach England abreist.

picture description Ich äußerte begeisterte Zustimmung für Tarzans brillanten Einfall, doch da meine Schwester nur dieses eine Paar Schuhe dabei hatte, müßten wir wohl oder übel dafür sorgen, daß sie ihm aus England ein neues Paar schickt. Widerwillig pflichtete er mir bei und zog den Schuh wieder aus, um die Größe nachzuschauen (36).
Ich stellte den Stiefel und sein Gegenstück hastig wieder zurück an die Türschwelle, wo Eleni sie hingestellt hatte.

Ein paar Tage später, als sich mein Puls wieder normalisiert hatte, erwähnte ich Eleni gegenüber ganz nebenbei, daß die Männer des Dorfes völlig aus dem Häuschen seien, was ihre Stiefel anging. Diesen überschwang konnte sie nur zu gut verstehen. Ich fügte hinzu, daß Tarzan sogar darum gebeten hatte, daß sie ihm ein Paar aus England schicke. Und prompt bot sie an, genau das zu übernehmen. Als sie sich nach Tarzans Schuhgröße erkundigte, sagte ich, ich wisse sie nicht genau, daß Tarzan selber aber geschätzt habe, ihre Schuh-größe dürfte in etwa der seinen entsprechen, und daß er das Risiko einer möglichen Differenz gerne auf sich nehmen wolle.
"Red keinen Quatsch! Stell dich nicht so umständlich an", fauchte sie. "Sag ihm einfach, er soll herkommen und meine anprobieren!"

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Bei Stamatakos | Yanni Skavos | Foto Galerie




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