Charlotte
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Im Spätsommer - selbst im September noch, wenn ich üblicherweise anreise - sind die Tage so sengend heiß, daß sich Charlotte, der Esel von Tante Katerina, sofort in den schattigen Stall des Hauses zurückzieht. Im griechischen Sommer ist der Schatten eine kühle, ungemein erquickende Oase, in der das Zirpen der Zikaden hallt und endlich Zuflucht vor dem Gleißen der Sonne winkt. Die Hühner picken im Staub vor Charlottes Hufen, als wäre der Esel eine Schubkarre. Das Tier ist es zufrieden, verharrt in stoischer Ruhe, wie nur Esel sie aufzubringen vermögen, hat augenscheinlich keinerlei Ziele und Zwecke im Sinn, ist froh, wenn es nicht weiter beachtet wird. Selbst ein Ortswechsel sorgt nicht für neue Unternehmungslust. Ungeachtet aller klugen Ratschläge, die man Charlotte erteilt, wenn man sie in der Mitte des Feldes festbindet, hat sie sich binnen weniger Minuten bewegungsunfähig gemacht - entweder verheddert der Esel in einem Wutanfall die Beine heillos im Hanfseile, oder aber er wickelt binnen Sekunden das Seil um den einzigen Baum der ganzen Insel, daß ihm kaum Luft bleibt. Und nie und nimmer käme er auch nur auf die Idee, sich in die entgegengesetzte Richtung zu wenden, um den engen Strick zu lockern. Aber es ist nicht so sehr die Unbeirrtheit des Esels, die mich beeindruckt - es ist sein schicksalergebenes Schweigen angesichts dieser völligen Bewegungsunfähigkeit: Das Tier wehrt sich keine Sekunde seiner Haut, wenn sich ein Mandelbaum als knorriger Tanzpartner leidenschaftlich an es schmiegt, ebensowenig läßt es auch nur ein einziges I-aah verlauten, wenn es die eigenen vier Beine wie beim Rodeo im Lasso verknotet hat und hilflos auf der Flanke im Staub liegt. |
Wenn es Abend wird, geht Tante Katerina in den Stall, um die Hühner einzusperren, und anschließend führt sie Charlotte hinaus auf die Weide vor dem Haus, wo der Esel - der sich bockend herauskomplimentieren läßt wie ein widerspenstiges Pony, das man in die Zirkusarena zerrt - für die Nacht festgebunden wird. Dieses allabendliche Ritual gibt mir Gewißheit, daß immer noch Sommer ist. Wenige Wochen später, wenn der Oktober fast schon hereinbricht und sich die ersten Wölkchen seit dem Frühjahr am Horizont zeigen, wird der Lebensrhythmus des Esels auf den Kopf gestellt - jetzt verbringt Charlotte die Tage auf der Weide und die Nächte im Stall. Bis zu den letzten Regengüssen des nächsten Frühjahrs genießt das wackere Grauchen den Tag im verbleibenden Sonnenschein, um sich des Nachts im Stall zu wärmen. Sobald Charlotte die Liebe zu Sonne und Wärme wiederentdeckt, dem Esel Schatten und Kühle gestohlen bleiben können, weiß ich, daß der Sommer ein Ende nimmt. Dann wird es Zeit für mich, das Haus zu räumen und zu verrammeln, das genau wie ich nicht für die stürmischen und naßkalten griechischen Winter gebaut ist. |
Umschlag
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Vorwort
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Tarzans Stiefel
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Esels Leben
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Koulas Kueche
Bei Stamatakos
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Yanni Skavos
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Foto Galerie
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